Releaserodeo Februar 2023 (Paramore, Deichkind, Donots, Pierce The Veil, You Me At Six, Shame & Narrow Head)

Donots – Heut ist ein guter Tag (Label: Solitary Man/VÖ: 03.02.)
Auf ihrem zwölften Album blicken die Donots der von weltweiter Pandemie, Klimakrise und Krieg ausgelösten Weltuntergangsstimmung trotzig entgegen. Nicht nur mit dem optimistischen Titel der Platte, sondern auch mit hoffnungsvollen Texten in einem Großteil der Songs. Das macht Heut ist ein guter Tag zu einem weniger politischen Album als die ersten beiden deutschsprachigen Platten der Band aus Ibbenbüren, gleichzeitig zeigt sich das Quintett so abwechslungsreich wie vielleicht noch nie. Die erste Punkrock-Abfahrt für den Circlepit gibt es gleich zu Beginn mit Auf sie mit Gebrüll, bevor das von Gitarrist Guido Knollmann gesungene Augen sehen mehr gen Post-Punk neigt. Im orientalisch angehauchten Streuner-Lied 9 Leben darf Jörkk Mechenbier (Love A, Trixsi) eine Strophe beisteuern, ehe Längst noch nicht vorbei mit Zeilen wie „Kopf hoch an der Guillotine“ zur ersten richtigen Durchhalteparole wird. 1.21 Gigawatt ist rasende Zurück in die Zukunft-Anspielung und Kaffee-Liebeshymne zugleich, während Traurige Roboter nach Der Trick mit dem Fliegen erneut Per Anhalter durch die Galaxis huldigt. Kometen nähert sich den Toten Hosen an, erinnert letzten Endes aber eher an die eigene Hymne Eine letzte letzte Runde. In im Chor gesungenen Apokalypse Stehplatz Innenraum heißt es am Ende zum ersten Mal „Heut‘ ist ein guter Tag“, während Radikale Passivisten auf diejenigen herabblickt, die zu bequem zum Protestieren sind. Solange wir uns haben feiert zu einem an Fucked Up erinnernden Riff die Gemeinschaft, ehe Hey Ralph erneut Trost spendet: „Hey Ralph, ich weiß, dein Jahr war schlecht/ Aber glaub, glaub mir mal in echt/ Das nächste, das wird gut“. Endlich irgendwo referenziert zum Abschluss die Pixies und Jawbreaker und endet im besten Moment der ganzen Platte: „Alles glänzt, alles scheint/ Für ein’n Moment alles leicht/ Heut‘ ist ein guter Tag“. Dass die Donots mit Heut ist ein guter Tag nach 29 Jahren Bandgeschichte zum ersten Mal den ersten Platz der deutschen Albumcharts erreicht haben, ist der verdiente Lohn.

Narrow Head – Moments Of Clarity (Label: Run For Cover/VÖ: 10.02.)
Das Cover deutet es an: Narrow Head sind nach Superbloom die nächste (Spitzen-)Band, die sich auf die 90er zurückbesinnt. Während das Quartett aus Texas – gegründet in Dallas, mittlerweile in Houston ansässig – bei seinen ersten Veröffentlichungen noch stark nach Helmet klang, ist das dritte Album Moments Of Clarity ein Amalgam aus Grunge, Alternative Rock und Metal und Shoegaze. Schon dem Opener The Real gelingt mit schweren Gitarren und weichem Gesang von Frontmann Jacob Duarte ein Kontrast, der das Album bis zum Ende spannend macht. Im gleichen Teich fischen auch der anschließende Titeltrack und Sunday, ehe Trepanation erstmals die volle Alternative-Metal-Wucht auffährt. Breakup Song kramt danach erstmals die Akustikgitarre hervor, fügt diese aber in den Gesamtsound ein. The World integriert wiederum einen Synthesizer in die Soundwand, bevor Gearhead und Flesh & Solitude in den Momenten, in denen Duartes Gesang in Geschrei übergeht, stark nach den Deftones und er nach Chino Moreno klingt. In beiden Songs spielen sich Narrow Head hinten raus zudem in einen Rausch. Danach ist alles gesagt und es folgen noch das zurückgelehnte The Comedown und das mit Drum-Computer aufgenommene Soft To Touch. Mit einer Lauflänge von 49 Minuten ist Moments Of Clarity vielleicht etwas zu lang, das wird jedoch durch eingängige Momente in nahezu jedem Song sowie das wuchtige Zusammenspiel der Band und eine gelungene Laut-Leise-Dynamik aufgefangen. Wenn man sich eindeutig auf eine vergangene Zeit zurückbesinnt, dann bitte so.

Paramore – This Is Why (Label: Atlantic/VÖ: 10.02.)
Nach dem New Wave/Synth-Pop-Ausflug After Laughter kehren Paramore auf This Is Why zur Gitarre zurück.Hier und da kleben am Sound des sechsten Albums noch leichte Synthie-Reste des Vorgängers, der Großteil der zehn neuen Songs ist hingegen von frickeligem Indierock der Marke Foals inspiriert, jedoch ohne deren komplexe Gitarrenfiguren zu erreichen. Das im Refrain rockiger werdende Running Out Of Time erinnert mit seinen poppigen Strophen zudem an die beiden Soloalben, die Sängerin Hayley Williams 2020 und 2021 veröffentlicht hat. Darauf wäre auch die Ballade Liar besser aufgehoben gewesen. Potenzial lassen Paramore zudem in C’est Comme Ca („So ist es“) liegen, wenn die Strophen kontrastiv zum trocken kommentierenden Refrain lyrisch nicht tief genug graben. Das passiert hingegen im eröffnenden Titeltrack, der sich subtil mit Klimawandelleugner*innen und Verschwörungstheoretiker*innen auseinandersetzt. Das von einer energischen Post-Punk-Gitarre angetriebene The News zeigt Williams dagegen wütend über die von Krieg beherrschte Weltlage und die damit einhergehende Ohnmacht. Dass Paramore musikalisch immer für eine Überraschung gut sind, beweist wiederum das von Klarinette und Querflöte eröffnete Big Man, Little Dignity. You First fährt danach den größten Refrain der Platte auf, bekommt im Anschluss mit dem poppigen Figure 8 jedoch Konkurrenz. Abgeschlossen wird This Is Why von Thick Skull, das die ruhigen und lauten Pole der Platte miteinander verbindet.

Pierce The Veil – The Jaws Of Life (Label: Fearless/VÖ: 10.02.)
Pierce The Veil kehren aus ihrer Pause gereift zurück und spielen auf ihrem fünften Album mitreißenden Gitarrenrock, ohne jedoch so ausschmückend wie bislang zu werden.Diese neue Seite steht dem Trio gut, die Klasse eines Collide With The Sky erreicht The Jaws Of Life jedoch nicht. Das dritte Album war 2012 sowohl der kreative als auch kommerzielle Höhepunkt der Band aus San Diego, Kalifornien. Darauf präsentierten Pierce The Veil eine ganz eigene Form von Screamo, voller rasanter Gitarrenriffs und toller Hooks, die sich spätestens mit dem Kastagnetten-Latin-Part in Bulls In The Bronx den Titel „Mexicore“ verdiente. Das alles ist elf Jahre später noch immer Teil der musikalischen DNA von Pierce The Veil, jedoch deutlich reduzierter als bislang. Geschrei gibt es etwa nur im groovenden Pass The Nirvana, dessen Refrain an Limp Bizkit erinnert. Death Of An Executioner ist wiederum ein herrlich dramatischer Opener und auch im reduzierten Even When I’m Not With You verschmiert der dick aufgetragene Kajalstift nicht. Das gilt auch für das anschließend wieder rockigere und das erste Albumdrittel beschließende Emergency Contact. So stark wie in den ersten vier Songs wird The Jaws Of Life nur noch an seltenen Stellen, auch weil die musikalische Annäherung an Twenty One Pilots in Flawless Execution und Shared Trauma ins Nichts führt. Solange Pierce The Veil aber so mitreißende Ohrwürmer wie Damn The Man, Save The Empire schreiben, verzeiht man ihnen das allemal.

You Me At Six – Truth Decay (Label: Underdog/VÖ: 10.02.)
Nur zwei Jahre nachdem You Me At Six auf Suckapunch nach Pop-Experimenten auf Night People und VI auf Albumlänge zur Gitarre zurückgekehrt waren, veröffentlichen die Briten mit Truth Decay ihr bereits achtes Album. Das ist auf der griechischen Insel Santorin entstanden und soll die Emo-Anfangstage der Band mit dem verbinden, was sie über die Jahre gelernt hat. Das geschieht durch unhandliche Songtitel wie A Smile To Make You Weak(er) At The Knees und durch eine bessere Einbindung elektronischer Elemente als auf den eingangs erwähnten fünften und sechsten Album. Etwa in No Future? Yeah Right, dessen kathartischer Refrain den Boden für einen halb schreienden Rou Reynolds in der Moshpit-tauglichen Bridge bereitet. Dessen Band Enter Shikari hatte 2022 einen Song mit Sängerin Cody Frost veröffentlicht, die nun auch auf Truth Decay im abschließenden A Love Letter To Those Who Feel Lost zu hören ist. Damit ist Truth Decay die erste Platte seit dem dritten Album Sinners Never Sleep, auf der Gaststimmen zu hören sind. Im direkten Vergleich zieht das neue Album den Kürzeren, auch weil You Me At Six die Hits der Platte alle an den Anfang packen. Mixed Emotions (I Didn’t Know How To Tell You What I Was Going Through) ist einer davon und – den sperrigen Songtitel außer Acht gelassen – schon dann Emo, wenn Sänger Josh Franceschi davon singt, dass er gemischte Gefühle hat. „God bless the 90s kids, 21st century misfits/ They never know when to quit/ They write their own scripts/ They were the kings and queens of the underground/ Heaven and hell bound” heißt es dagegen im krachenden God Bless The 90’s Kids, während After Love In The After Hours sowohl textlich als auch musikalisch verrucht daherkommt. Deutlich zu zahm fällt dagegen Breakdown angesichts der lyrischen Ankündigung „I’m about to have a fucking breakdown“ aus, während Who Needs Revenge When I’ve Got Ellen Rae etwas zu sehr an Thnks fr th Mmrs von Fall Out Boy erinnert. Das reicht noch nicht für die beste britische Emo-Band, auf einem guten Weg sind You Me At Six jedoch allemal.

Deichkind – Neues vom Dauerzustand (Label: Sultan Günther/VÖ: 17.02.)
Mit Delle am Helm die Fete verpennt: Deichkind liefern auch 2023 noch immer Songs für eskalative Partys, üben sich dabei aber weiterhin in Gesellschaftskritik. Zusammen mit Clueso lassen sich die Hamburger in Auch im Bentley wird geweint über Reiche aus und Merkste selber operiert mit Zeilen wie „WM in Katar (Merkste selber)“ und „Kinosterben beklagen/ Aber dann schön Netflix gucken (Merkste selber)“ gleich an mehreren Fronten. Diese Haltung geht bei den Hamburgern zudem über die Musik hinaus. „Wer ist denn Mathias Rust?“ fragen die Tetraeder-Träger in Kids in meinem Alter. Rust ist ein deutscher Privatpilot, der 1987 mit einem Flugzeug auf der Großen Moskwa-Brücke unweit des Roten Platzes in Moskau landete und damit ein Zeichen für den Frieden setzte. Das greifen Deichkind im Musikvideo zu Geradeaus auf und positionieren sich damit gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. In der Natur erzählt zu Gejodel von den Unterschieden zwischen dem Leben in einer Überflussgesellschaft in der Stadt zur Natur und mit Lecko Mio haben Deichkind einen waschechten Sommerhit aufgenommen. Davon kann man halten, was man will, es ist jedoch erstaunlich, wie leicht auch dies der Gruppe von der Hand zu gehen scheint. Überhaupt nutzen Deichkind auf ihrem achten Album ihre künstlerische Freiheit voll aus: in Kids in meinem Alter bricht Kryptik Joe immer wieder in Gelächter aus und Kein Bock ist mehr Spoken-Word-Theater als Song. Mit Wutboy gibt es auch wieder richtigen Electropunk im Sinne von Illegale Fans und in Mehr davon dürfen die sich Ende des Jahres auflösenden Fettes Brot mitfeiern. In gleich fünf Songs ist zudem Musiker, Autor und Aktivist Roger Rekless mit dabei, während einige Texte in Zusammenarbeit mit Gereon Klug (Hans E. Platte) entstanden sind, der auch schon bei Leider geil mitgeschrieben hat. Auch weil die Beats auf Neues vom Dauerzustand mal untermalend, mal treibend sind und dann wieder ordentlich nach vorne schieben, klingt auch 2023 immer noch niemand so wie Deichkind.

Shame – Food For Worms (Label: Dead Oceans/VÖ: 24.02.)
Nachdem Shame Anfang 2021 auf ihrem zweiten Album Drunk Tank Pink ihre durch die Pandemie ausgelöste Sinnkrise kanalisiert haben, kommt 2022 der Druck von außen: ihr Management drängt sie dazu, in drei Wochen zwei Konzerte mit komplett neuem Material zu spielen, woraus während des vergangenen Festivalsommers ihr drittes Album wird. Darauf blicken Shame nicht mehr nur nach innen, sondern versuchen, die Welt um sie herum zu erfassen. Textlich ist Food For Worms daher weniger nihilistisch als sein Vorgänger, sondern vielmehr eine Ode an die Freundschaft und eine Feier des Lebens. Das Album hat die Band aus London mit Produzent Flood (U2, Nine Inch Nails) live aufgenommen. Auch deshalb legt die Platte so gut wie bislang kein anderes Shame-Album alle Facetten des Quintetts offen. Der Noiserock von Drunk Tank Pink findet sich in Songs wie Alibis oder The Fall Of Paul wieder, während der zerbrechliche Opener Fingers Of Steel und das zum Finale anziehende Burning By Design an die frühen Pixies erinnern. Auch wenn Yankees nach genuscheltem Intro karger Post-Punk ist, haben sich Shame doch längst aus dem Genre-Korsett ihres bejubelten Debüts Songs Of Praise (2018) befreit und häuten sich mit jedem neuen Album aufs Neue. Einflüsse für Food For Worms sollen Lou Reed und die melodischen Blumfeld der 90er gewesen sein. Nichtsdestotrotz fällt der Großteil der zehn Songs recht spröde aus und entwickelt erst nach mehreren Durchläufen Eingängigkeit. Neu ist dagegen der vermehrte Einsatz von Gruppengesang, etwa im hymnischen Adderall, der Beobachtung einer von verschreibungspflichtigen Medikamenten abhängigen Person, bei der zudem Phoebe Bridgers Hintergrundgesang beisteuert, da sie zufällig zur selben Zeit im gleichen Studio wie Shame aufgenommen hat. Im flotten Six-Pack malt sich Sänger Charlie Stehen hingegen seinen eigenen Raum der Wünsche: „Now you’ve got a six-pack/ Now you’ve got a puppy/ Now you’ve got a tan/ Now you’ve got Pamela Anderson reading you a bedtime story/ And every scratch card is a fucking winner.“ Ihre großartigen Songwriting-Künste stellen Shame zudem in Different Person einmal mehr unter Beweis, wenn sie in der Mitte das Tempo zu einem schunkelnden Part wechseln, ehe der Song in einem Noiserock-Finale gipfelt. Mit Food For Worms haben sich Shame selbst übertroffen.