Anti-Flag – Lies They Tell Our Children (Label: Spinefarm/VÖ: 06.01.)
Anti-Flag fordern sich nach 30 Jahren Bandgeschichte selbst heraus, indem sie als 13. Album eine Konzeptplatte veröffentlichen. Lies They Tell Our Children handelt vom Einfluss, den Großkonzerne auswirken, von politischen Maßnahmen und von kulturellem Wandel. „Fuck all their borders and fuck all their wars/ The violence of Wall Street and profiteer cures/ Neoliberal white saviors, Murdoch and Fox News/ Fuck the Pittsburgh Police and the President, too“, singt das Quartett aus Pittsburgh, Pennsylvania im Intro Sold Everything und fasst damit die Thematiken der folgenden zehn Songs zusammen. Es geht – unter anderem – um profitorientierte Gesundheitssysteme (Modern Meta Medicine), die ebenfalls von Profit gesteuerte Ausbeutung unseres Planeten (Laugh. Cry. Smile. Die.), den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine (The Fight Of Our Lives), Imperialismus und den damit zusammenhängenden Kolonialismus (Imperialism) und Kapitalismus (Work & Struggle). Dafür holt sich die Punk-Band insgesamt acht Gaststimmen dazu. Darunter sind mit Jesse Leach (Killswitch Engage) und Brian Baker (Bad Religion) Genre-Veteranen, in The Fight Of Our Lives changiert zudem Rise-Against-Sänger Tim McIlrath zwischen Gesang und Geschrei, während Laugh. Cry. Smile. Die. an Silverstein erinnern lässt, auch weil deren Frontmann Shane Told mitsingt. Anti-Flag holen sich ihre Gäste aber nicht wahllos ins Boot, sondern stimmen diese stets auf die Songs ab. Zu Shallow Graves passt die Reibeisenstimme von Singer/Songwriter Tré Burt daher genau so gut wie der Beitrag von Die-Toten-Hosen-Sänger Campino zur Stadionhymne Victory Or Death. Besonders erfreulich ist jedoch, dass mit Ashrita Kumar von den Pop-Punk-Newcomer*innen Pinkshift sowie Stacey Dee von Bad Cop/Bad Cop auch zwei Frauen mit dabei sind, deren Beiträge in Imperialism und NVREVER zu den stärksten der Platte gehören und beiden Songs einen ganz neuen Schwung verleihen. Doch auch die Songs ohne Feature wissen zu überzeugen. Nach einem Dutzend Alben wissen Anti-Flag eben, wie man Songs auf den Punkt schreibt, wann man das Tempo anziehen sollte und wann man es zugunsten eines bierseligen Refrains auch wieder herunterschrauben kann. Das gilt für Lies They Tell Our Children noch mehr als für die jüngsten vorangegangenen Alben der Band, die hierauf wieder Hymnen voller mitreißender Refrains am Fließband abliefert und weiterhin zu den wichtigsten Stimmen im Punk gehört.
Billy Nomates – Cacti (Label: Invada/VÖ: 13.01.)
Bevor Tor Maries 2020 mit ihrem Debütalbum für Aufmerksamkeit sorgte, war sie bereits Mitglied zahlreicher Bands, jedoch mit ausbleibendem Erfolg. Nach Depressionen und nachdem sie ein Konzert der Sleaford Mods besucht hatte, entscheidet sie sich, wieder Musik zu machen, dieses Mal jedoch allein. Der Einfluss des Electro-Punk-Duos auf den Post-Punk/New Wave inklusive Sprechgesang von Billy Nomates ist nicht zu überhören, mit Cacti emanzipiert sich Maries nun davon. Ihr zweites Album hat die Multiinstrumentalistin selbstproduziert und -eingespielt, gemischt hat die Platte wie bereits das Debüt Geoff Barrow von Portishead, zusätzlich erscheint das Album auf seinem Label Invada. Schon der Ohrwurm-Opener Balance Is Gone macht klar, dass Maries – ihr Künstlername Billy Nomates geht auf eine Beleidigung zurück, die ihr entgegenschlug, als sie allein zu einem Konzert auftauchte – den Sprechgesang gegen ihren weichen und dennoch kraftvollen Gesang eintauscht. Auch musikalisch zeigt sich die in Leicester aufgewachsene und derzeit in Bristol lebende Künstlerin äußerst vielseitig. Ein Großteil der Songs basiert auf durchlaufenden Beats, die immer wieder von Bassläufen und Gitarrenfiguren umrandet werden. Der Titeltrack schielt zudem gen Industrial, während das zweiminütige Roundabout Sadness eine Industrial-Ballade inklusive Orgel darstellt. Saboteur Forcefield erinnert wiederum an die ruhigen Momente auf St. Vincents Masseduction. Spite rückt die Gitarre zunächst in den Fokus und in Fawner greift Maries sogar zur Akustikgitarre. Die große Kunst von Cacti ist jedoch, dass die Songs trotz zahlreicher Schichten nie überladen sind, im Gegenteil: Maries‘ Singer/Songwriter-Synthie-Post-Punk-Pop hört man an, dass sie ihn dieses Mal noch im Studio ausarbeiten konnte und macht zudem Vergleiche mit anderen Künstler*innen schwierig. Textlich geht es übrigens darum, zu sich selbst zu finden, dunkle Phasen zu überwinden und gleichzeitig anderen Mut zu machen, das gleiche zu tun. Das verkörpert insbesondere das tanzbare Blue Bones (Deathwish), in dem Maries ihre Depressionen auf die Straße setzt. Wenn sie am Ende des Closers Blackout Signal vom Mikro wegtritt um hallend zu schreien, ist das pure Katharsis und man kann sich gut vorstellen, wie befreiend das für Maries bei ihren Konzerten sein muss. Die bezeichnet sie als Form des Exorzismus und tritt allein und lediglich mit Laptop und Mikro bewaffnet auf. Iggy Pop und Florence Welch sind bereits Fans. Es spricht viel dafür, dass 2023 noch einige dazukommen.
Måneskin – Rush! (Label: Sony/VÖ: 20.01.)
Nach Jahren der Dürre hat die Musikindustrie mit Måneskin endlich wieder waschechte Rockstars, die sich extravagant, exzessiv und überlebensgroß geben. Das Quartett aus Rom ist spätestens seit dem Gewinn des Eurovision Song Contests 2021 in aller Munde. Seitdem ging es für die Italiener*innen mit Auftritten auf der ganzen Welt steil nach oben, das dritte Album Rush! stellt nun den bisherigen Höhepunkt dar. Mit 17 Songs backen Måneskin nicht gerade kleine Brötchen und preschen in einem unglaublich hohen Tempo durch die facettenreiche Tracklist. Der Opener Own My Mind klingt zu Beginn etwa nach UK-Indie, beim anschließenden Ohrwurm Gossip gniedelt Rage-Against-The-Machine-Gitarrist Tom Morello mit und die Ballade Timezone sucht erstmals die große Geste und trägt textlich ganz dick auf. Das gilt auch für das weirde und sich gegen alle Hater stellende Bla Bla Bla, Tiefpunkt ist aber das gewollt britisch klingende Kool Kids. Das sollten Måneskin lieber Frank Carter oder Idles überlassen. Einen roten Faden sucht man ebenfalls vergeblich. 14 Songs sind auf Englisch gesungen, drei auf Italienisch und auch gleich hintereinander gereiht: das nach dem Mörder von John Lennon benannte Mark Chapman, La Fine („Das Ende“) und Il Dono Della Vita („Das Geschenk des Lebens“). Mark Chapman und La Fine besitzen eine ansteckende Dringlichkeit, ebenso Mammamia und Don’t Wanna Sleep. Supermodel ist wiederum ein unverblümter Sommerhit, während sich Gasoline immer wieder stark aufbaut, ohne sich jedoch so richtig zu entladen. Für einen Großteil der Songs haben Måneskin mit Superstar-Songwritern und Pop-Produzenten wie Sly, Captain Cuts und Max Martin zusammengearbeitet, eine Amerikanisierung ihres Sounds lässt sich also nicht leugnen. Ob man diesen Weg mit Måneskin mitgehen möchte, ist jeder Person selbst überlassen. Fakt ist jedoch, dass Rush! die höchst elektrisierenden Liveshows der Band einfängt, allerlei Songs mit Ohrwurm-Potential liefert und gleichermaßen auf die Tanzfläche zieht und sich zu großen Gesten hinreißen lässt.
The Murder Capital – Gigi’s Recovery (Label: Human Season/VÖ: 20.01.)
Auf ihrem Debütalbum When I Have Fears hatten The Murder Capital 2019 herausragend mit den Polen Laut und Leise gespielt, auf ihrem zweiten Album setzen die Iren dies nun fort und befreien sich gleichzeitig vom klassischen Post-Punk-Korsett. Auf Gigi’s Recovery erweitert das Quintett aus Dublin seinen Sound um zahlreiche Synthesizer. Im Hit der Platte, Return My Head, ertönt etwa immer wieder ein fiepender Sound, das ruhige Belonging klingt dank nuanciert eingesetzter Synthie-Töne wie ein untergehendes U-Boot. Das sind hervorragende Ergänzungen zum bisherigen Sound von The Murder Capital, die das Spiel mit den Kontrasten nun auf die Spitze treiben. In Crying arbeiten die Gitarristen Damien Tuit und Cathal Roper nicht nur herausragend mit Feedback, der Song wird zudem immer lauter und rockiger und von Minute zu Minute auch immer eingängiger. Crying ist aber nicht der einzige Song, der eher Post-Rock statt Post-Punk ist, auch Ethel, A Thousand Lives sowie der Titeltrack brechen in der Bridge in Post-Rock-Gefilde aus. Das erinnert immer wieder an Black Country, New Road und deren zweites Album Ants From Up There, The Murder Capital sind im Gegensatz zu den Engländern jedoch deutlich weniger kryptische Texter. Gigi’s Recovery ist ein Konzeptalbum im klassischen Sinn mit übergeordneter Handlung, festen Figuren und kohärenten Motiven. Im Fokus steht die Protagonistin Gigi, die all das verkörpert, was die Band in den vergangenen Jahren erlebt hat. The Murder Capital hinterfragen die eigene Existenz und suchen nach Halt in einer überfordernden Welt. Im finalen Spoken-Word-Outro Exist kommt schließlich die Erkenntnis: unser Dasein wird von Wandel und Wachstum bestimmt. All das verarbeiten The Murder Capital in poetischen Zeilen wie „Just like ships in the night/ Promising to collide/ Well, I’m casting myself/ And the shoreline alight/ Where the beaches divide/ I can see it outside on the shrines/ In the air” in The Stars Will Leave Their Stage. Gigi’s Recovery kann mitunter sehr melancholisch und immer wieder etwas spröde werden. Lässt man sich darauf ein, wird man mit einem überzeugenden Album belohnt, das insgesamt aber etwas hinter der Klasse anderer zweiten Alben neuerer Post-Punk-Bands wie Shame, Fontaines D.C. und eben Black Country, New Road zurückbleibt.
Fucked Up – One Day (Label: Merge/VÖ: 27.01.)
Nachdem Fucked Up 2021 mit Year Of The Horse den neunten Teil ihrer seit 2006 laufenden Twelve-Inch-Zodiac-Reihe veröffentlicht hatten, melden sich die Kanadier nun mit ihrem sechsten Album und dem ersten seit Dose Your Dreams (2018) zurück. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger sowie dem fantastischen David Comes To Life (2011) ist One Day kein weiteres Konzeptalbum über den Protagonisten David. Ein Konzept liegt der Platte dennoch zugrunde, denn die Musik haben Fucked Up an einem Tag geschrieben und aufgenommen, genau gesagt in drei achtstündigen Sessions. Herausgekommen ist mit 40 Minuten Lauflänge das bislang kürzeste Album des Quintetts. Der Großteil der zehn Songs ist sonniger Punkrock mit Hardcore-Galle von Frontmann Damian Abraham, der nur gelegentlich aufgebrochen wird, etwa im von Verlust handelnden und mehr nach Americana und Heartland klingenden Cicada. Der komplett aus Klargesang bestehende Song schafft zudem das, was ein Großteil der anderen Songs nicht schafft: einen erinnerungswürdigen Refrain aufzufahren. Das ist das größte Problem von One Day: dem Album hört man teilweise an, dass es unter Zeitdruck entstanden ist, viele Gitarrenfiguren ähneln sich und oftmals wirken Fucked Up in der Bridge der Songs geradezu uninspiriert. Ein schlechtes Album ist One Day dennoch nicht geworden, dafür besitzen die heiteren Arrangements zu viel Strahlkraft. Ein Highlight ist zudem Broken Little Boys, als einziger Song unter drei Minuten lang, mit seiner stampfenden Stadionbridge und einem starken Finale. Die Texte sind im Gegensatz zur Musik nicht an einem Tag entstanden und erstmals seit Glass Boys (2014) hat auch Abraham wieder Lyrics beigesteuert. Die reflektieren den Zahn und Lauf der Zeit, der Opener Found setzt sich zudem mit der Kolonialisierung, Vertreibung und dem Völkermord an den Indigenen von Nordamerika auseinander.